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Vermisst: 20 Zentimeter

Die Schienen im israelischen Bahnhof Ra’anana liegen rund 20 Zentimeter zu tief. Drei Optionen, um sie anzuheben.

Ein Bahnreisender im Rollstuhl fährt auf einen Kurbellift, um in einen Intercity-Neigezug zu gelangen
Auch in der Schweiz sind nicht alle Züge und Bahnhöfe stufenfrei (Bild: SBB)

In der Schweiz sind wir es uns gewohnt, an manchen Bahnhöfen zwischen Perron und Zug eine oder mehrere Stufen zu erklimmen. Zwar ist das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) seit Jahren beschlossene Sache, doch es sind bei Weitem noch nicht alle Bahnhöfe umgebaut – sehr zum Leidwesen von Menschen im Rollstuhl, mit Kinderwagen oder Gepäck.


Diese Bahnhöfe sind Relikte aus längst vergangenen Zeiten. Erst seit dem BehiG (und vergleichbaren Gesetzen in anderen Ländern und auf Stufe der EU) gibt es einheitliche Vorgaben, wie hoch die Perronkante gegenüber der Schienenoberkante sein soll. In der Schweiz sind es 55 Zentimeter.


Eine solche Norm ist indes nötig, damit Rollmaterialhersteller die Höhe ihres Trittbretts und Wagenbodens auf die Infrastruktur abstimmen können, sodass Ein- und Aussteigende eine Kante von höchstens einigen Zentimetern überwinden müssen.

Eine Bahnreisende im Rollstuhl verlässt selbstständig einen Zug
So sollte es sein: Das Trittbrett ist nur unmerklich tiefer als die Perronkante (Bild: SBB)

Vor der Jahrtausendwende hatte diese Genauigkeit keine Priorität, da die meisten Züge im Türbereich sowieso eine oder mehrere Stufen hatten. Ob also zwischen Perron und Trittbrett auch noch eine Lücke klaffte, machte den Braten auch nicht mehr feiss.


Ein modernes Phänomen

Dass Reisende hingegen vom Bahnsteig ins Wageninnere eine Stufe nach unten überwinden müssen, war lange Zeit kaum vorstellbar. Aus Kostengründen hätte keine Bahn von sich aus ein rund doppelt so hohes Perron erstellt. Auch aufseiten der Zughersteller machten Kosten dieses Problem unrealistisch – Niederflurwagen sind technisch komplex und kein Industriebetrieb käme auf die Idee, seine Wagen so weit wie möglich statt so weit wie nötig abzusenken.


Vom Perron in den Zug absteigen zu müssen, ist also ein durch und durch modernes Phänomen. Es entsteht, wenn keine Normen vorhanden sind, wenn sie nicht allen Beteiligten bekannt sind oder wenn sie im Laufe des Projekts geändert werden.


Eines dieser Missverständnisse passierte beim Bau des Bahnhofs Ra’anana Süd auf Israels Sharon-Bahnstrecke. Als der neue Bahnhof 2018 eröffnet wurde, waren die Perrons rund 20 Zentimeter zu hoch für die in der Zwischenzeit beschafften Niederflurzüge.

Der Bahnhof Ra'anana Süd
Der Bahnhof Ra'anana Süd (Bild: Wikipedia, Urheber:in unbekannt))

Das war umso unschöner, weil sich der Bahnhof unter Tag befindet und deswegen mit einer festen Fahrbahn ausgestattet wurde. Deren Schwellenblöcke müssen vor dem Einbetonieren auf den Zehntelmillimeter genau ausgerichtet werden, da das Gleis im Gegensatz zum klassischen Schotteroberbau nicht in die richtige Lage gestopft werden kann.


Schwellen «aufbocken»?

Die Staatsbahn Rakkevet Israel (RI) musste den unangenehmen Entscheid fällen, ob sie die Situation hinnehmen – feste Fahrbahnen sind auf eine Lebensdauer von rund 100 Jahren ausgelegt – oder ob sie die Mehrkosten für eine Anpassungen auf sich nehmen möchte. RI entschied sich für die kundenfreundlichere Option und beauftragte RUBI Bahntechnik und Pernstich Ingenieure mit dem auf seine Art einzigartigen Projekt.


Die beiden Partnerfirmen überlegten sich verschiedene Möglichkeiten, um die fehlenden 20 Zentimeter wettzumachen. Denkbar ist, die Schwellen und Schienen «aufzubocken» und die darunterliegende Betonplatte auf dem bestehenden Niveau zu belassen. Der Vorteil dieser Lösung ist, dass die Betonplatte, die sich ja in nahezu perfektem Zustand befindet, fast unverändert bleibt. Es müssten lediglich zwei Tröge in Längsrichtung ausgefräst werden, in denen anschliessend die neuen Betonbalken erstellt werden.

Gleisquerschnitt, auf dem die Veränderungen für Variante 1 eingezeichnet sind
Die Betonbalken sind in Rot, die Armierung in Blau eingezeichnet. Das rechte Gleis zeigt die heutige Situation.

Hier zeigt sich aber gleich der grosse Nachteil dieser Option: Betonabsätze mit rund 20 Zentimetern Höhe und Breite sind nicht gerade stabil. Um die tonnenschwere Belastung des Oberbaus und der darauf verkehrenden Züge tragen zu können, müssten die Längsbalken armiert werden. Ausserdem würden sich in den entstehenden Gräben Wasser und Abfall ansammeln; sie müssten also regelmässig geputzt werden. Soll dies maschinell erfolgen, wäre wohl eine Spezialanfertigung nötig, die genauso einzigartig wäre wie das Problem und die Lösung.


Auf der ganzen Breite

Deshalb schlugen RUBI Bahntechnik und Pernstich Ingenieure zwei Möglichkeiten vor, bei denen die Betonplatte im Wesentlichen auf der ganzen Breite erhöht wird. So verteilt sich die Last und der Beton muss nicht bewehrt werden.

Gleisquerschnitt, der die nötigen Veränderungen für Variante 2 zeigt
Rot eingezeichnet die unbewehrte Betonplatte, die nicht ganz so breit wie die darunterliegenede ist

Denkbar ist, dass die erhöhte Platte leicht schmäler als die bestehende ist und die Absätze in die bestehenden Entwässerungskanäle abfallen. Diese Lösung bringt jedoch keine wesentlichen Vorteile gegenüber einer Platte auf der vollen Breite und kostet beinahe gleich viel. Deswegen haben RUBI Bahntechnik und Pernstich Ingenieure der RI empfohlen, eine neue Betonplatte in derselben Breite wie die darunterliegende zu erstellen.

Gleisquerschnitt, der die Veränderungen für Variante 3 zeigt
Die neue Betonplatte gleich breit wie die bestehende zu giessen ist die beste Lösung

Zweitbeste Option wäre die Aufbockung auf Längsbalken. Neben der Bewehrung unterscheidet sich diese Variante in einem wesentlichen Punkt von den beiden anderen: Es wäre deutlich weniger Beton nötig. Bestehen also Beschaffungs-, Produktions- oder Transportengpässe, gewinnt diese Möglichkeit an Attraktivität. Die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine zeigen, dass solche Engpässe rasch eintreten können.

Ein Bautrupp bereitet das Betonieren einer festen Fahrbahn mit Weiche vor
Aus baulicher Sicht ist die zweite Betonplatte keine Hexerei – die Arbeiten sind kaum vom üblichen Einbau einer festen Fahrbahn wie hier auf der Durchmesserlinie Zürich zu unterscheiden (Bild: SBB / Dorothea Müller)

Für die israelischen Bahnreisenden sind die drei Varianten praktisch gleichwertig. Sie alle ermöglichen künftig stufenfreies Ein- und Aussteigen. Die Bauzeit beträgt für alle drei Möglichkeiten rund 40 Tage. Und schliesslich sind die Kosten, die sich allenfalls auf die Billettpreise auswirken, wie bereits erwähnt etwa gleich hoch.

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